Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Working Group Future Values

Menu

Themenfeld Freiheit und Sicherheit

COVID-19-Maßnahmen und der Wertekonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit (19.09.2022)

Carmen Friedrich

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden weltweit politische Maßnahmen ergriffen, die mit weitreichenden Freiheitseinschränkungen einhergingen und das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit deutlich machten. Doch von Land zu Land fielen die COVID-19-Maßnahmen teils sehr unterschiedlich streng aus.

Die Frage, ob sich diese internationale Variation der politischen Maßnahmen teilweise durch die Präferenzen in einer Gesellschaft für den Wert der Freiheit oder den der Sicherheit erklären lässt, untersuchte das Forschungsprojekt „Krisenmanagement im Kontext der COVID-19-Pandemie - Die Rolle von Freiheit und Sicherheit“ der Ad-hoc-AG „Zukunftswerte“. Welche Antworten unser Forschungsprojekt zum Einfluss des Wertkonflikts finden konnte und wie sich die Ergebnisse zu Demokratien und Autokratien unterscheiden, erfahren Sie in diesem Video von Carmen Friedrich (Wissenschaftliche Mitarbeiterin des BAdW-Forschungsprojekts sowie der Professur für Demografie an der Universität Bamberg).

Wenn Sie mehr zu dem Thema, der Methodik oder den Ergebnissen des Forschungsprojekts erfahren möchten, können Sie dies in dem kürzlich erschienenen und frei zugänglichen wissenschaftlichen Aufsatz „The value conflict between freedom and security: Explaining the variation of COVID-19 policies in democracies and autocracies“ von Prof. Dr. Nicole J. Saam, Carmen Friedrich und Prof. Dr. Henriette Engelhardt-Wölfler gerne hier nachlesen: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0274270.

Leben im Alter. Zwischen Freiheit und Sicherheit (23.5.2022)

Podiumsdiskussion
Wir alle wollen alt werden, aber niemand will alt sein – und kaum jemand will sich mit dem Altern beschäftigen. Wir fürchten das Alter. Wir wollen nicht hilfsbedürftig und von anderen abhängig sein, Autonomie verlieren oder Freiheit zu Gunsten von Sicherheit aufgeben müssen, wie es die Mehrheit der Bilder vom „Alter“ und insbesondere vom Leben in Altenheimen nahelegen. Doch was wissen wir eigentlich vom Alter? Wie sähe ein freies, wie ein sicheres Leben in der dritten und vierten Lebensphase aus? Müssen wir uns zwischen Freiheit und Sicherheit „entscheiden“ oder lässt sich dieser Wertkonflikt vermeiden?
Diese Fragen betreffen uns alle – individuell und als Gesellschaft. Früher oder später werden wir selbst oder unsere Angehörigen alt und der demographische Wandel führt dazu, dass die politische Aufgabe drängender wird, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Erforderlich ist dafür eine öffentliche Debatte, die am 23. Mai 2022 auf dem Podium von unseren Gästen, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben im Alter blicken, geführt wurde.

Begrüßung:
Prof. Dr. Nicole J. Saam (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg/ BAdW)

Podiumsgäste:

  • PD Dr. Jens Benninghoff (Isar-Amper-Klinikum München-Ost)
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg/ BAdW)
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
  • PD Dr. Helga Pelizäus (Universität der Bundeswehr München)

Moderation:
Jeanne Turczynski (Bayerischer Rundfunk)

Themenfeld Gemeinschafts- vs. Eigeninteresse

Vertrauen in Wissenschaft. Interdisziplinäre Reflexionen (17.5.2022)

Tagung

Im Rahmen des Workshops sowie der anschließenden öffentlichen Abendveranstaltung wurde im interdisziplinären Dialog diskutiert, welche Rolle Vertrauen beim Umgang mit wissenschaftlichen Befunden und im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit spielt. Es wurden dabei ökonomische, soziologische und psychologische Perspektiven in den Blick genommen und diese zu den neuesten Befunden des Wissenschaftsbarometers in Bezug gesetzt. Was kann das Vertrauen in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess stärken und welche Faktoren erhöhen Misstrauen?

Video 1: Grußwort von Prof. Dr. Dr. Arndt Bode (Vizepräsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Präsident der Bayerischen Forschungsstiftung)

Video 2: Einführung in die Thematik von Prof. Dr. Monika Schnitzer (Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitglied der BAdW)

Video 3: Vortrag von Prof. Dr. Armin Falk (Universität Bonn) zum Thema Wie Ökonomen über Vertrauen nachdenken mit einer Einführung von Prof. Dr. Monika Schnitzer

Video 4: Vortrag von Ricarda Ziegler (Wissenschaft im Dialog) zum Thema Erkenntnisse zur Entwicklung des Wissenschaftsvertrauens in Deutschland aus dem bevölkerungsrepräsentativen Wissenschaftssurvey Wissenschaftsbarometer mit einer Einführung von Prof. Dr. Dieter Frey (Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitglied der BAdW)

Video 5: Vortrag von Prof. Dr. Rainer Bromme (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) zum Thema Informiertes Vertrauen in Wissenschaft. Das Konzept und eine Zwischenbilanz nach zwei Jahren Pandemie mit einer Einführung von Prof. Dr. Frank Fischer (Ludwig-Maximilians-Universität München, Mitglied der BadW)

ICH ODER WIR? Wertediskurse in Zeiten von Klimawandel, Migration und Pandemie (5. Mai 2021)

Workshop und Abendvortrag

Angesichts prägender Veränderungen wie dem Klimawandel, globalen Migrationsbewegungen oder der COVID-19-Pandemie stellt sich die Frage nach dem Stellenwert von Gemeinschafts-werten im Gegensatz zu Ich-bezogenen Werten in besonderer Weise neu. Inwieweit bin ich bereit, mich selbst zum Wohle der Gemeinschaft einzuschränken? Was tut die Gemeinschaft für mein Wohl? Was ist uns meine und oder deine Gesundheit wert? Wie weit sind wir bereit, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen? Wertekonflikte sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel, und die Gewichtung der miteinander in Konkurrenz oder in Übereinstimmung stehenden Werte unterliegt genauso einem Wandel, wie die heutige Gesellschaft. Werte verstanden als Orientierungsstandards für menschliches Handeln haben sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Dimension. In einem interdisziplinären Feld von Referierenden wurde am 5.5.2021 die Rolle von Werten im Verhältnis zu diesen aktuellen Fragestellungen auf wissenschaftlicher Basis diskutiert.

Video 1: Prof. Dr. Andrea Abele-Brehm (Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg): Begrüßung und Einführung in die Thematik

Video 2: Prof. Dr. Thomas  O. Höllmann: Grußwort

Video 3: Prof. Dr. Andreas Urs Sommer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Werte als Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart?

Video 4: Keynote: Prof. Dr. Ariel Knafo-Noam (Hebrew University of Jerusalem): Werteentwicklung: von der Kindheit bis zur Adoleszenz


Gemeinschaft durch Werte? Politische Kommunikation im Wandel

Werte sind ein zentrales Medium politischer Kommunikation. Nun lässt sich jedoch beobachten, dass die Herstellung von Gemeinsamkeit immer schwieriger wird und womöglich auch gar nicht mehr vorrangiges Ziel politischer Parteien ist. Die Tagung, die am 13.7.2021 stattfand, fragt nach gegenwärtigen politischen Kommunikationsstrategien sowie nach Erzählformen eines politischen „Wir“. Dabei werden unterschiedliche Formen der politischen Ansprache in den Blick genommen. Wie reagieren Parteien auf neue und changierende Wählermilieus und wie werden im politischen Wettbewerb Werte kommuniziert?

Video 1: Prof. Dr. Andrea Abele-Brehm (Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg): Begrüßung und Einführung

Video 2: Dr. Julian Müller (BAdW)/Dr. Astrid Séville (Ludwig-Maximilians-Universität München/BAdW): Wertekommunikation in der Politik – Vergemeinschaftung durch Kollektivansprache oder Mobilisierung durch personalisierte Botschaften

Video 3: Dr. Cord Schmelzle (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Frankfurt/Main): Moral, Moralisierung und Moralismus in der politischen Debatte

Video 4: Oliver Weber (Universität Regensburg): Die Moral der Krise. Moralisierung als Krisensymptom und politische Strategie

Video 5: Dr. Julian Müller (BAdW)/Dr. Astrid Séville (Ludwig-Maximilians-Universität München/BAdW): Eine paradoxe Lösung für ein paradoxes Problem? Der strategische Umgang mit Werten im aktuellen Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen

Video 6: Prof. Dr. Silke Mende (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Die Grünen – eine Partei der Ambivalenz?

Themenfeld Multikulturalität vs. Identität

Berlins Museen: Vom Universalmuseum des 19. Jahrhunderts zur Kontroverse um das Humboldt Forum – und darüber hinaus

Michael F. Zimmermann und Horst Bredekamp

Wie kaum ein anderer Kunsthistoriker seiner Generation hat Horst Bredekamp auf die Geschichte der Berliner Museen zurückgeblickt und zugleich ihre Entwicklung geprägt. Im Jahr 1993 erschien seine Studie Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Im gleichen Jahr wurde ihm der Lehrstuhl für sein Fach an der Humboldt-Universität zu Berlin anvertraut. Im seit 2020 schrittweise eröffnenden Humboldt Forum im Berliner Schloss kommen Sammlungen von Kunst- und Kulturgut weltweiter Provenienz mit Objekten der Wissen(schaft)sgeschichte zusammen. Ein solches Forum hatte Bredekamp schon Ende der 1990er Jahre öffentlich gefordert, bevor er es 2001 vor der Kommission Berlin Mitte vorstellen und von 2015 bis Juni 2017 als einer von drei Gründungsintendanten mitgestalten konnte. Der Fachkollege Michael F. Zimmermann, Leiter des Kreises Multikulturalität und Identität im Rahmen der Arbeitsgruppe Zukunftswerte an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, führte mit ihm drei Gespräche über Ideen eines Universalmuseums und die Geschichte ihrer Verwirklichung in Berlin – bis hin zur vehementen Kontroverse um das Humboldt Forum, die im Juni 2022 mittlerweile seit fast fünf Jahren im Gange ist.

Teil 1: Von der Kunstkammer zur Eröffnung von Schinkels Altem Museum (1830)

Immer wieder neu setzte man seit dem 16. Jahrhundert im Berliner Schloss dazu an, Kuriositäten und Kunstwerke, Naturobjekte und wissenschaftliche Modelle zu sammeln. Kabinette wurden aufgebaut und wieder aufgelöst. Doch mit der von Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen Theater der Natur Bredekamp 2004 eine Studie gewidmet hat, vertretenen Idee der Wissenschaftsakademie bahnte sich der Weg zum Konzept eines Museums an, in dem das natürliche und kulturelle Erbe der gesamten Menschheit vertreten sein sollte. Die Sammlungen glichen anfangs noch den Kunst- und Wunderkammern und erinnerten eher an Präsentationen des Surrealismus als an die Spartenmuseen des 19. Jahrhunderts. In aktuellen Schaustellungen der materiellen Kultur jedoch wird erneut der Unterschied von Natur und Kultur in Frage gestellt. Die Gestalt der Akademie-Sammlungen, wie sie auch in der Berliner Humboldt-Universität noch weit bis ins 18. Jahrhundert gezeigt wurden, wirkt zudem in heutigen Sammlungen nach, in denen nicht mehr systematisch zwischen Gemälden, Skulpturen und Kunsthandwerk getrennt wird. Doch auf der Spreeinsel änderte sich das Bild nach den Kriegen gegen das Napoleonische Frankreich: Die Aufklärung und die Durchsetzung autonomer Geschichts- und Kulturwissenschaften forderte danach, dass Skulptur und Malerei in ihren ästhetischen Eigenentwicklungen nachvollzogen werden konnten. Zwischen Restauration und Vormärz suchte zugleich eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit wenigstens im Bereich der Kultur nach Ausdruck ihrer Ideale, die sie in der athenischen Demokratie begründet sah. Beides kommt gegenüber dem Berliner Schloss der preußischen Dynastie in Karl Friedrich Schinkels Altem Museum zusammen. Während das Schloss sich abschließt, öffnet sich dieser Bau mit seiner an die Antike anknüpfenden Wandelhalle zum Lustgarten, den die Straße Unter den Linden als Hauptachse Berlins durchzieht.

Teil 2: Vom Neuen Museum bis zum Pergamonmuseum: Erweiterungen und Neudeutungen der Weltkultur

Wenn Friedrich Wilhelm IV. schon als preußischer Kronprinz plante, das gesamte Gelände auf der Spreeinsel nördlich des Alten Museums zu einer „Freistätte der Künste und der Wissenschaften“ auszubauen, so folgte er darin dem enzyklopädischen Ideal der Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt. Im Neuen Museum, geplant von Schinkels innovativem Schüler Friederich August Stüler und 1855 eröffnet, geriet kulturhistorisches Wissen in ein Spannungsfeld mit einer Geschichtsteleologie. Mit ihr begründete man den Anspruch, von der Höhe des preußischen Humanismus auf die Menschheitsentwicklung zurückblicken zu können. Im heute nach seinem Direktor Wilhelm von Bode benannten Haus, das 1904 eröffnet wurde, eignete sich das Bürgertum der Berliner Gründerzeit den Geist der Florentiner ebenso wie der niederländischen Republik an. Im Zuge einer ungleichgewichtigen Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich, das längst in eine tiefe Existenzkrise geraten war und von den westeuropäischen Mächten dominiert wurde, gelangten ganze Bauwerke wie das Ischtar-Tor und die Babylonische Prachtstraße, der Pergamonaltar oder die Fassade des frühislamischen Wüstenschlosses von Mschatta südlich von Amman nach Berlin. Später umstrittene Fundteilungen unter dem in Ägypten regierenden Sultanat der Khediven brachten 1912 auch die Nofretete an die Spree. Um die architektonischen Machtdemonstrationen Babylons und des Hellenismus herum wurde seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein erst 1930 fertiggestellter Riesenbau errichtet und nach dem Pergamonaltar benannt. Der Widerspruch zwischen Herrschaftsideologie und archäologisch-historischer Kritik spitzte sich von 1880 bis 1930 weiter zu.

Teil 3: Von der Teilung der Sammlungen nach 1945 zur Einrichtung des Humboldt Forums im Berliner Schloss

Im Osten Berlins wurde 1950 die durchaus noch imposante Ruine des Hohenzollernschlosses gesprengt. Von 1973-76 baute man auf dem Gelände den Palast der Republik, der 2006-08 abgerissen wurde. Im Westen entstanden nahe der Mauer 1960-63 die von Hans Scharoun geplante Philharmonie, von 1962-68 gefolgt von dem ikonischen Bau der Neuen Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe, einem Tempel des freien Bürgers, und von weiteren herausragenden Bauten wie Scharouns Staatsbibliothek (1967-78). Am Kulturforum am Kemperplatz, der so entstanden war, wurde noch nach der Wende 1989 die vorher geplante, doch kaum begonnene Gemäldegalerie gebaut. Auch als sich die Aufmerksamkeit erst verspätet wieder auf die Spreeinsel konzentrierte, verabschiedete man sich nur zögerlich von der Idee, das gemeinsame Erbe in „gattungsreinen“ Museen für Malerei, Skulptur und Kunstgewerbe im Westen am Kemperplatz zu versammeln. Bald setzte sich Bodes Idee einer integrierten Ausstellung, die alle Künste miteinander in den Dialog bringt, wieder durch. Doch derzeit fehlt das Geld für einen Bau, der als Pendant zum Bode-Museum jenseits des Kupfergrabens die nordalpine Kunst aufnehmen könnte. Der Abschluss einer gelungenen Wiedervereinigung von Berlins Museen bleibt Projekt. Realisiert wurde dagegen das Humboldt Forum im teilrekonstruierten Schloss. Das Projekt, nichteuropäische Kultur im Zentrum der alten und neuen Hauptstadt zu zeigen, war anfangs enthusiastisch als Zeichen von Weltoffenheit begrüßt worden. Heute ist es zum Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen um Anti-, Post- und Dekolonialismus geworden. Jenseits der festgefahrenen Positionen plädieren die Gesprächspartner dafür, die Idee des Universalmuseums zugunsten des Konzepts eines „planetarischen Museums“ zu historisieren. Dieses soll dem Gedanken geteilten Eigentums am Menschheitserbe Platz einräumen, aktiv Dialog fördern und organisieren, sich vor allem aber beständig selbst exportieren. Leitend ist der Grundsatz, nicht nur dem berechtigten Anspruch aller Menschen auf ihre je eigene Erinnerungskultur gerecht zu werden, sondern auch ein universales Recht auf Teilhabe an der Kultur auf dem gesamten Planeten – und damit auch am Weltkulturerbe – soweit wie nur möglich zu verwirklichen.


Kunst- und Rechtsgeschichte des Universalmuseums: vom 19. Jh. zur Debatte um Restitutionen – und zum „planetarischen Museum“?

Michael F. Zimmermann und Antoinette Maget Dominicé

2008 in Kunstgeschichte sowie zugleich in Rechtswissenschaften mit einem Schwerpunkt auf öffentlichem Recht promoviert, ist Antoinette Maget Dominicé seit 2018 als Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. In ihrer 2009 veröffentlichten Dissertation hat sie sich mit dem Aufbau ägyptischer Sammlungen in den zu Anfang des 19. Jahrhunderts in London, Paris, Turin und Berlin entstehenden Universalmuseen befasst. Seither forscht sie ebenso zur Sammlungs- und Provenienzgeschichte wie zur Entwicklung des internationalen Kunstrechts, auch angesichts neuer Herausforderungen durch das Digitale. Im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Michael F. Zimmermann, der im Rahmen der Arbeitsgruppe Zukunftswerte an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Teil-AG Multikulturalität und Identität leitet, resümiert Antoinette Maget Dominicé zunächst die Geschichte ägyptischer Sammlungen, die seit Napoleons Musée Impérial im Louvre an den großen Zentren des Westens angelegt wurden. Ägyptische Kunst wurde dabei oft, so auch im Neuen Museum Berlin, gleich im monumentalen Erdgeschoss als erste Etappe der abendländischen Kultur präsentiert. Im Zeitalter des Universalmuseums reklamierte diese damit gleich die Anfänge einer teleologisch konzipierten Entwicklung für sich. Ausgehend davon plädieren Maget Dominicé und Zimmermann dafür, das Konzept des Universalmuseums zu verabschieden, statt es, wie noch 2002 in einer Erklärung von Museumsdirektionen, selbst zum Weltkulturerbe zu deklarieren. Stattdessen solle man Orientierung an der Idee eines planetarischen Museums suchen, aufgefasst als vernetzte Institution zur treuhänderischen Verwaltung von Kulturerbe. Als „planetarisch“ wird in Anlehnung an den Historiker Dipesh Chakrabarty ein nicht totalisierender Blick auf die Erde als Lebensraum aufgefasst, der nur durch gemeinsames Engagement erhalten werden kann. Durch die kreative Auslegung bestehenden Rechts soll auch Raum für Diplomatie und den Dialog nicht nur zwischen Staaten, sondern unter verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen geschaffen werden. Die Agenda der Restitution geraubter Kulturschätze an die Ursprungs- und Nachfolgegesellschaften, die als legitim anerkannt werden, soll dadurch nicht in Frage gestellt oder ausgebremst, sondern vielmehr ergänzt und bereichert werden.


Nationale Selbstbestimmung als ethischer Imperativ: Mexiko und Spanien im Vergleich

Michael F. Zimmermann und Carlos Ulises Moulines

Carlos Ulises Moulines, der ehemalige Direktor des Seminars für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie (inzwischen: Munich Center for Mathematical Philosophy) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat sich als Philosoph der Wissenschaften und als Spezialist für Logik mit erkenntnistheoretischen Fragen befasst. Sein Lebensweg – von Caracas nach Barcelona, von München nach Mexico-Stadt und nach anderen Stationen zurück nach München, wo er lange Jahre gelehrt hat – hat es jedoch mit sich gebracht, dass er mit verschiedenen nationalen Identitäten in Berührung kam. Seit einem im Jahr 2002 in mehreren Sprachen veröffentlichten Manifiesto Nacionalista setzt er sich für das Recht nationaler Gruppen darauf, ihre Kulturen frei und unabhängig leben zu können, ein. Dabei folgt er weder einem romantischen Volksbegriff noch dem Ideal einer sprachlich homogenen Nation, die in einem geschlossenen Territorium geeint ist. Übernationalen Verbünden wie der EU fühlt er sich verbunden und begrüßt ihre Weiterentwicklung und Vertiefung. In dem Gespräch, das er mit Michael F. Zimmermann, dem Leiter der Teil-Arbeitsgruppe Multikulturalität und Identität führt, widmet er sich besonders solchen Bevölkerungsgruppen, die in ihren jeweiligen Ländern keine Mehrheiten bilden, nämlich den Mayas in Mexico, die erst seit wenigen Jahren frühere Traditionen wiederbeleben, und den verschiedenen Nationen Spaniens, darunter die über die Grenzen Kataloniens hinaus ihre Sprache pflegende katalanische Nation. Während er für das Individuum die Freiheit reklamiert, auch mehre Nationalkulturen in sich zu verbinden, fordert er für die Nationen ein kategorisches Recht auf Selbstbestimmung: Es gilt allein dadurch, wie er betont, dass es überzeugend im Namen einer Nation eingefordert wird.


Migrationspolitik in Italien: vom Aus- zum Einwanderungsland

Michael F. Zimmermann und Michele Colucci

In einem Videogespräch in zwei Teilen diskutiert der Leiter der Teil-AG, der Kunsthistoriker Michael F. Zimmermann, mit dem Historiker Michele Colucci, Senior researcher am Consiglio Nazionale delle Ricerche am Institute for Studies on the Mediterranean, über Italiens Genese vom Aus- zum Einwanderungsland. In seinem Spezialgebiet, der Geschichte der Migration, unterrichtet Michele Colucci auch an der Università Roma Tre. Er hat 2008 eine Publikation über die Anfänge der Arbeitsmigration aus Italien vorgelegt, 2018 folgte eine umfassende Darstellung der Immigration nach Italien.

Teil 1, 1945–1989

Infolge des Zweiten Weltkriegs machte Italien erste Schritte hin zu einem Einwanderungsland, insbesondere von Bevölkerungsgruppen, die aus ehemals italienischsprachigen Gebieten, zum Beispiel in Istrien oder Dalmatien, nach Italien zogen. Nicht wenige landeten in teils prekären Arbeitsmärkten, darunter dem der haushaltsnahen Dienstleistungen oder dem der Erntearbeit in Süditalien. Parallel dazu kam es auch zu einer beachtlichen internen Migration aus dem industriell benachteiligten Süden in die Industrieregionen der Poebene. Auch die Immigration von Ausländern nach Italien ist allerdings nicht zu vernachlässigen, zumal bereits während dieser Zeit die Grundlagen für die spätere Gesetzgebung gelegt wurden. Diesen Prozessen war schon seit dem späten 19. Jahrhundert eine massive Auswanderungsbewegung nach Süd- und Nordamerika vorausgegangen. Bis 1989 wanderten aber auch viele Italiener aus der Apenninenhalbinsel aus, unter anderem in die Bundesrepublik Deutschland. Dort wurden die Zuwanderer als „Gastarbeiter“ bezeichnet – in der Hoffnung auf deren Rückwanderung.

Teil 2, 1989–2022

Nachdem Italien vor 1989 zwar eine signifikante, zahlenmäßig jedoch vergleichsweise geringe Immigration erlebt hatte, erwiesen sich der Zusammenbruch Jugoslawiens und der Sowjetunion und das damit einhergehende Ende des Kalten Kriegs als Wendepunkt. Seither stiegen die Zahlen kontinuierlich – insgesamt so weit, dass der Anteil der immigrierten Bevölkerung heute mit dem in anderen Einwanderungsländern Europas wie Deutschland oder Frankreich vergleichbar ist. Dies ging bekanntlich mit erheblichen gesellschaftlichen und politischen Spannungen einher. Michele Colucci schildert die Begebenheiten, die zu unterschiedlichen Positionierungen, auch zu Polarisierung, geführt haben – angefangen mit der Ankunft von Schiffen mit albanischen Flüchtlingen im Sommer 1990 in verschiedenen apulischen Häfen. Umfassend führt er in das komplex strukturierte Panorama der multikulturellen Lage im heutigen Italien ein. Er geht dabei auch auf die Folgen der relativ späten Immigration ein, die bereits in einen postindustriellen Arbeitsmarkt erfolgte und sich daher nicht mehr nur in großen industriellen Zentren konzentrierte. Umfassend rekonstruiert er das schwer überschaubare Mosaik verschiedener Traditionen der Immigration in unterschiedlichen Regionen und Städten. Er skizziert die damit einhergehenden gesellschaftlichen Konsequenzen, die von guter Integration bis zu ganz prekären Situationen saisonaler Wanderbewegungen reichen.


Nachdenken über die Diaspora

Michael Brenner und Miriam Rürup

Wer sich mit jüdischer Geschichte und Kultur beschäftigt, wird früher oder später auf das Thema der Diaspora stoßen, nicht zuletzt auch ganz zeitgenössisch. Doch woher kommt der Begriff historisch und was wird im Laufe der Geschichte damit verbunden? Wie stehen die Begriffe Diaspora und Exil zueinander und welche Erfahrungshorizonte sind damit bezeichnet? Welche Gruppen abseits der spezifisch jüdischen Erfahrung beanspruchen für sich, eine Diaspora zu stellen – und was verbindet sie miteinander? Diesen Fragen geht Michael Brenner im Gespräch mit Miriam Rürup (Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professorin an der Universität Potsdam) nach, die sich seit Jahren mit diesen Zusammenhängen beschäftigt. Ihr Buch „Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeitgeschichte“ ist 2009 erschienen; derzeit entwirft sie als Herausgeberin ein großangelegtes Projekt des Leo Baeck Instituts zur deutsch-jüdischen Diaspora im 20. Jahrhundert.


Identität im Singular? Biografieschreibung als Schlüssel der Analyse einer Gesellschaft

Kristina Milz und Barbara Stollberg-Rilinger

Die eine als Frau und Herrscherin eine der mächtigsten und bekanntesten Figuren des Ancien Régimes, der andere ein zwar privilegierter, aber an den Grenzen seiner Zeit strauchelnder Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der weitgehend in Vergessenheit geraten ist – die Habsburger Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) und der deutsch-jüdische Orientalist Karl Süßheim (1878–1947) könnten kaum verschiedener sein. Dennoch haben ihre Biografinnen einen gemeinsamen Anspruch: Untersucht man diese Leben, gewinnen auch die Gesellschaften, in denen die Protagonisten sich bewegten, schärfere Konturen. Was verrät die Rezeption einer Figur über ihr Umfeld? Wie werden die zeitgenössischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Erwartungshaltungen, Regeln und Konventionen am Leben eines Einzelnen sichtbar? Wie kann eine Biografin bewusst eine solche professionell gebotene Perspektive der Fremdheit eingehen, wenn sie zugleich versucht, der porträtierten Person so nah wie möglich zu kommen? Im Gespräch mit Kristina Milz erkundet die Frühneuzeithistorikerin und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin Barbara Stollberg-Rilinger die Möglichkeitsräume, die die Biografieschreibung für das Verständnis einer Zeit bietet: Die Identität eines Menschen kann nicht im Singular geschrieben werden.


Kongolesische (post)koloniale Erinnerung – kollektive Identitäten und individuelle Schicksale

Gilbert Ndi Shang und In Koli Jean Bofane

Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler (und Schriftseller) Gilbert Ndi Shang lotet der Schriftsteller In Koli Jean Bofane die Komplexität der kongolesischen Geschichte aus. Beide verdeutlichen, in welcher Weise kollektive Identitäten und individuelle Lebensläufe durch die koloniale Vergangenheit geprägt wurden. Zugleich geht Bofane der Frage nach, wie die Vergangenheit bis heute die Beziehungen zwischen dem Kongo und der ehemaligen Kolonialmacht Belgien bestimmt. Die Erinnerung an das Kolonialregime im Kongo hat Belgien in eine moralische Krise gestürzt. Eine jüngere Generation stellt die Geschichtsschreibung auf Seiten der belgischen Nation über ihre eigene koloniale Vergangenheit grundsätzlich in Frage. Bofane betrachtet den Kongo als einen Raum, dessen Schicksal den Interessen globaler Supermächte und ihrer lokalen Stellvertreter geopfert wurde.

Der Schriftsteller unterstreicht die Notwendigkeit, dass die Kongolesen selbst ihre Geschichte und die der Kolonisation erzählen. Während die Diktatur in der heutigen demokratischen Republik Konto, damals Zaire, lange alternative Perspektiven auf die Erinnerungen und die Zukunft des Landes unterdrückt hatte, reagiert in den letzten Jahren ein wachsender Literaturbetrieb auf das Bedürfnis nach eigenständiger Erinnerungsarbeit. Da die kongolesische Geschichte außergewöhnlich, immer wieder tragisch verlaufen ist, drückt sich in der Literatur aus diesem Land auch die Tragödie anderer marginalisierter Länder aus: obwohl Ausmaß und Geschwindigkeit der kolonialen Vereinnahmung herausragen, sind die Folgen des globalisierten Kapitalismus doch mit denen in anderen Ländern vergleichbar. Was die kongolesische Geschichte angeht, bezeichnet sich Bofane als Pessimist und Optimist zugleich: Pessimistisch ist er, weil sich die politischen Einstellungen lokaler und internationaler Führer gegenüber den Kongolesen und ihren Ressourcen nicht geändert haben; optimistisch, weil das Leben als Kongolese stets eine Lektion der Hoffnung und des Glaubens an unausgeschöpfte Möglichkeiten war – und so ist es noch heute. So hindert die diasporische Identität der Kongolesen in Belgien diese nicht daran, das politische Geschehen in ihrer Heimat zu beeinflussen – und dabei auf der Weltbühne kongolesische ebenso wie afrikanische Kultur zu vertreten.


(Self)images of Africa and Afropea in Children’s Literature in France and Germany

Gilbert Ndi Shang and Élodie Malanda

In this discussion with Gilbert Ndi Shang, Élodie Malanda, Postdoc fellow of the Humboldt Foundation, examines questions of identity connected to her research. She has researched on the images of Africa in children’s literature in France and Germany and is now working on children’s literature by Afro-French and Afro-German authors. She argues that German/French texts about Africa, though they try to avoid colonial stereotypes, still, perhaps unconsciously, perpetuate less nuanced images of the continent and its inhabitants. On the other hand, Afropean youth literature attempts to fill in the paucity and absence of texts with characters of African ancestry as protagonists and not just as stereotyped “others”.  Though this literature is still somewhat fledgling (more so in Germany than in France) and continues to face editorial challenges due to the underestimation of its artistic quality, Élodie Malanda holds that Afropean children/youth literature is gaining grounds and growing beyond strictly Afropean community.

 

(Selbst-)Bilder von Afrika und Afropa in der französischen und deutschen Kinderliteratur

Gilbert Ndi Shang und Élodie Malanda

In diesem Gespräch mit Gilbert Ndi Shang untersucht Élodie Malanda, Postdoc-Stipendiatin der Humboldt-Stiftung, Fragen der Identität im Rahmen ihrer Forschung. Sie hat über die Bilder von Afrika in der Kinder- und Jugendliteratur in Frankreich und Deutschland geforscht und arbeitet nun zu Kinderliteratur von afrofranzösischen und afrodeutschen Autorinnen und Autoren. Sie argumentiert, dass deutsch-französische Texte über Afrika, obwohl sie versuchen, koloniale Stereotypen zu vermeiden, immer noch, vielleicht unbewusst, undifferenzierte Bilder des Kontinents und seiner Bewohner aufrechterhalten. Andererseits versucht die afropäische Kinderliteratur, den Mangel an Texten mit Figuren afrikanischer Abstammung als Protagonistinnen und Protagonisten und nicht nur als stereotype "Andere" auszugleichen. Obwohl diese Literatur noch in den Kinderschuhen steckt (in Deutschland mehr als in Frankreich) und weiterhin mit publizistischen Herausforderungen konfrontiert ist, weil ihre künstlerische Qualität unterschätzt wird, ist Élodie Malanda der Meinung, dass die afropäische Kinder- und Jugendliteratur an Boden gewinnt und das Interesse an ihr über die rein afropäische Gemeinschaft hinaus wächst.


Zur Zukunftsfähigkeit der Nation

Heike Paul und Aleida Assmann

"Die Wiedererfindung der Nation" lautet der Titel des jüngsten Buchs von Aleida Assmann – "Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen". Doch ist das Konzept der "Nation" wirklich zukunftsfähig? Darüber diskutierte Heike Paul von der Arbeitsgruppe "Multikulturalität und Identität" mit der Autorin.


Migration und Religion: Deutschland und Frankreich im Vergleich

Andreas Wirsching und Hélène Miard-Delacroix

In einem lebhaften Gespräch über das deutsch-französische Verhältnis entfalteten Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching in einem gemeinsamen Buch die wechselvolle Geschichte einer einzigartigen Nachbarschaft – sie erklärten darin auch, wie wichtig die Kenntnis der gemeinsamen Vergangenheit für die deutsch-französische Zusammenarbeit in der EU des 21. Jahrhunderts ist. In vielerlei Hinsicht knüpfen sie nun an diese Überlegungen an: Für die Videogesprächsreihe der Arbeitsgruppe "Multikulturalität und Identität", der auch Andreas Wirsching angehört, tauschen sich die beiden über die wichtigen Felder Migration und Religion in ihren jeweiligen Ländern aus und wagen einen zeitgeschichtlichen Überblick in drei Teilen.