Die Studien
Teilgruppe Freiheit – Sicherheit
Freiheit versus Sicherheit im Lebenslauf. Dynamik eines Wertkonflikts im demographischen Wandel
In Ausnahmesituationen wie zu Zeiten der Corona-Pandemie erfolgen zum Wohle, für die Gewährleistung der Gesundheit und zur Sicherheit ‚aller‘ Beschränkungen der Menschenrechte. Regierungen verordnen der Bevölkerung Ausgangsbeschränkungen oder häusliche Quarantäne. Politische und organisationale Autoritäten erlassen für Krankenhäuser und Alten(pflege)heime Besuchsverbote und Ausgangssperren. Doch selbst diese sehr drastische und umfassende Beschränkung der Freiheit garantiert nicht, dass Bewohner*innen vor einer Ansteckung sicher sind. Ganz im Gegenteil wird manchen Altenheimbewohner*innen gerade das Leben an einem solchen, vermeintlich sicheren Ort zum Verhängnis; angesichts der Kontakthäufigkeit, der Bewohner*innen-Dichte und der Schwierigkeit, die Menschen voneinander zu isolieren, der vielfach ohnehin vorhandenen Überlastung des Pflegepersonals und knapp bemessener Personalschlüssel, die eine Kontrolle der Bewohner*innen u.U. genauso verhindern wie das Einhalten hoher Hygienestandards, verbreitet sich in manchen Heimen das Virus rasend schnell (z.B. das Seniorenheim „St. Nikolaus“ in Würzburg). Der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit, der sich jetzt im Kontext von Corona, ganz besonders drastisch an solchen Extremfällen zeigt, stellt ein wesentlich alltäglicheres Phänomen dar: Ein Leben lang erleben wir als Menschen Unsicherheiten und sind in unterschiedlichem Maße auf Hilfe und Unterstützung bzw. allgemeiner auf Care angewiesen, aber auch auf den Schutz durch und vor anderen Menschen, lebens- und umweltlichen Gefahren. Insbesondere aus einer Lebenslaufperspektive erkennt man unterschiedliche Verhältnisse von Autonomie und Fürsorge bzw. Versorgung, wie auch Spannungen und Konflikte. Das Projekt wird Werteüberlegungen und -abwägungen sowie Freiheit-Autonomie-Sicherheit-Verhältnisse rund um den Heimeinzug und die Heimunterbringung analysieren, die Akteurskonstellationen und die Wechselverhältnisse der Freiheits- und Sicherheitsbedürfnisse und -ansprüche verschiedener Akteur*innen aufzeigen, temporale Veränderungen bezüglich der Verhältnisse und Relevanzen von Sicherheit und Freiheit rekonstruieren wie auch Ideen und Best-Practice-Modelle zur Maximierung von Freiheit und Sicherheit bei institutioneller Unterbringung und Abhängigkeit erarbeiten.
Leitung: Prof. Dr. Nicole J. Saam
Mitarbeiterin: Dr. Marie-Kristin Döbler
Publikation: Werte am Lebensabend. Zur Bedeutung von Sicherheit und Freiheit für ältere Menschen
(https://badw.de/fileadmin/pub/akademieAktuell/2022/76/AA0122_36-38_Fokus_Saam_Doebler.pdf)
Krisenmanagement im Kontext der COVID-19-Pandemie – Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden weltweit politische Maßnahmen ergriffen, die mit weitreichenden Freiheitseinschränkungen einhergehen und das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit deutlich machen. Freiheitseinschränkende Maßnahmen sollen zur Sicherheit der Bevölkerung – zur Sicherheit deren Gesundheit – beitragen. Das Infektionsrisiko soll verringert und eine Überlastung der Gesundheitssysteme vermieden werden. Die Maßnahmen umfassen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Verbot öffentlicher und religiöser Versammlungen, Beschränkungen für Pflegeinrichtungen, Verbot bzw. Schließung nicht-essentiellen Handels, Dienstleistungen und Produktion sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen.
Die Art, Stringenz und das Timing politischer Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie variieren stark zwischen verschiedenen Ländern, wobei sich diese Variation nicht allein auf die Zahl nationaler COVID-19-Fälle zurückführen lässt. Das Forschungsprojekt widmet sich dem durch das Krisenmanagement deutlich werdenden Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit und untersucht mit Hilfe multivariater Analyseverfahren mögliche Ursachen für die internationale Variation politischer Maßnahmen. Zwei Bereiche freiheitseinschränkender Maßnahmen sollen im Zentrum stehen und in den Analysen gegenübergestellt werden: Beschränkungen der Wirtschaftsfreiheit und Beschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit.
Leitung: Prof. Dr. Henriette Engelhardt-Wölfler, Prof. Dr. Nicole J. Saam
Mitarbeiterin: Carmen Friedrich, M.A.
Publikation: The value conflict between freedom and security: Explaining the variation of COVID-19 policies in democracies and autocracies
(https://doi.org/10.1371/journal.pone.0274270)
Die Idee der Freiheit und ihre Semantiken. Zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit
Als politisch-rechtliche Leitidee der Moderne findet „Freiheit“ spontan weitreichende Zustimmung. Bei näherem Hinsehen – das soll sichtbar gemacht werden – zeigen sich gleichwohl höchst unterschiedliche Deutungen und Akzentuierungen. Darüber hinaus ist der Freiheitsbegriff semantischen Umkehrungen ausgesetzt, die sogar darauf hinauslaufen können, faktische Unfreiheit als höchste Freiheit auszugeben. Unterschiedliche Disziplinen - Rechtswissenschaft, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Politologie, Soziologie, Theologie, Kommunikations- und Kulturwissenschaften – sprechen sich für ein anspruchsvolles Freiheitsverständnis aus und legen ihr Augenmerk nicht zuletzt auf die relationale Dimension von Freiheitspraxen.
Ein zweites Anliegen besteht darin, unsere Vorstellungen vom Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit auf den Prüfstand zu stellen. In aktuellen Debatten, wie etwa zu den Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus SARS-CoV-2, zur Terrorismusprävention, zur Sicherung gefährdeter Infrastruktur usw., spielt das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit eine herausragende Rolle. Es gibt nicht das eine Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit; vielmehr zeigen sich hier unterschiedliche, stets auch kontextuell verschiebbare Konstellationen. Außerdem erweist sich nicht jedes Spannungsverhältnis als ein Konfliktverhältnis, das einer Nullsummenlogik folgt, wonach die eine Seite nur gewinnt, was die andere verliert. Es existieren höchst unterschiedliche Wertrangbeziehungen und Dringlichkeitsordnungen zwischen Freiheit und Sicherheit. Sie sollen zunächst sichtbar gemacht und sodann aus den Perspektiven der jeweiligen Disziplinen problematisiert werden.
Leitung: Prof. Dr. Nicole J. Saam, Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt
Publikation: Die Idee der Freiheit und ihre Semantiken. Zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit (https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6188-0/die-idee-der-freiheit-und-ihre-semantiken/)
Teilgruppe Gemeinschaftsinteresse – Eigeninteresse
Wertekonfigurationen in gesellschaftlichen Diskursen – unter besonderer Berücksichtigung von Gemeinschaftsinteresse versus Eigeninteresse
Schwerpunkt: Lehrpläne
Moralische Diskurse werden heute in der Öffentlichkeit vorwiegend über Werte ausgetragen. Diese begreifen wir als funktionale Begriffe, die dazu dienen, Maßstäbe für moralisches Urteilen und Handeln miteinander vergleichbar zu machen. Sie unterliegen ebenso einem Wandel, wie die Gesellschaft, die den Diskurs über sie prägt. Ihr Einflussbereich definiert sich stets darüber, wie sich die Konflikte der Werte untereinander gestalten und wie einzelne Personen oder Gruppen sie priorisieren.
In dem Forschungsprojekt wird untersucht, wie sich Werte in gesellschaftlichen Diskursen konfigurieren und manifestieren und welche Funktionen sie darin erfüllen. Zielsetzung des Projektes ist es, Aussagen darüber machen zu können, welche Werte besonders dominant sind und was das für unsere Gesellschaft bedeutet. Theoretische Grundlage ist die Theory of Basic Values von Shalom H. Schwartz, die hinsichtlich einer diskursanalytischen Vorgehensweise methodisch reflektiert und weiterentwickelt wird. Exemplarisch werden die Diskursformationen in bayerischen Lehrplänen der allgemeinbildenden Schularten sowie die Programme der im Bundestag vertretenen Parteien analysiert. Insbesondere das Verhältnis zwischen Gemeinwohlorientierung und Individualwerten wird dabei in den Blick genommen.
Leitung: Prof. Dr. Annette Scheunpflug
Prof. Dr. Andrea Abele-Brehm
Mitarbeiterin: Martina Osterrieder
Schwerpunkt: Parteiprogramme bzw. politische Kommunikation von Werten
Das Projekt fragt nach der Rolle von Werten innerhalb der politischen Kommunikation. Auf welche Werte greifen politische Parteien zurück? Gegenstand der Untersuchung sollen dabei die Grundsatzprogramme der deutschen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Diese bieten sich als konkreter und klar eingrenzbarer Untersuchungsgegenstand an, da in ihnen der Kurs der Parteien für einen längeren Zeitraum formuliert wird, dabei aber unterschiedlichen innerparteilichen Positionen Rechnung getragen werden muss. Werte spielen – so unsere Ausgangsüberlegung – eine entscheidende Rolle, da sie sich nicht nur durch Abstraktheit und semantische Vagheit, sondern auch durch ihre Nicht-Negierbarkeit auszeichnen. Gerade die genuine Unbestimmtheit von Werten vermag eine „Gemeinsamkeitsunterstellung“ (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 343) herzustellen.
Neben der inhaltlichen Untersuchung der Grundsatzprogramme der Parteien nimmt das geplante Projekt daher die Funktionsweise von Werten in der politischen Kommunikation in den Blick. Hierbei wird zunächst der Frage nachgegangen, welche gesellschaftlichen Werte von den Parteien wiederholt betont werden, um dann den kommunikativen und diskursstrategischen Effekt von Wertekommunikation zu beschreiben.
Leitung: Dr. Astrid Séville
Prof. Dr. Annette Scheunpflug
Prof. Dr. Andrea Abele-Brehm
Mitarbeit: Dr. Julian Müller
Teilgruppe Multikulturalität - Identität
Multikulturalität und Identität auf den Großausstellungen „Documenta“ und „Biennale“ seit 1989: Blicke von außen und Europas postkolonialer Blick auf sich selbst
Das Projekt ist derzeit noch in der Planungsphase:
Spätestens seit den 1980er Jahren wurde das System der visuellen Künste globalisiert – ein Prozess, der sich in den letzten Jahren unumkehrbar gegen die Wertvorstellungen einer nur „atlantischen“ Moderne und Postmoderne gewendet hat. In Shanghai, Istanbul, Johannesburg, Rio de Janeiro und andernorts entstanden Institutionen des Kunstbetriebs; auch wurden internationale Großausstellungen ausgerichtet. Dabei wurde nicht nur den jeweils lokal tätigen Künstler*innen, sondern auch solchen aus de-favorisierten Gebieten wie dem „global south“ ein Forum geboten. Die Änderungen des internationalen Ausstellungsbetriebs haben jedoch auch die etablierten europäischen Großausstellungen wie die seit 1895 in Venedig ausgerichtete Biennale und die seit 1956 im damaligen Zonenrandgebiet Kassel veranstaltete Documenta erfasst.
Globale Herausforderungen wurden auch zum Thema vieler Kunstwerke, die in Europa gezeigt und lebhaft diskutiert wurden. Im Vordergrund standen dabei Themen wie soziale Ungleichheit, moderne Formen der Ausbeutung bis hin zur Sklaverei, Migration – auch auf anderen Kontinenten – und Abschottung, Klimawandel und Artensterben sowie die Externalisierung von Umweltschäden oder die Landverwüstungen durch Massenproduktion des globalen Agrar-Handels. Doch ging es nicht nur um neue Inhalte in alten und neuen Medien, sondern auch um die Form medialer Kommunikation. So wurde die Frage danach aufgeworfen, wie Menschen in den reichen Ländern überhaupt Mitmenschen jenseits globaler Machtgefälle zur Sprache kommen lassen können, ohne sie dabei zu Vertretern einer weltweiten, auf medialen Stereotypen beruhenden Sozialtypologie zu reduzieren. Nicht nur Inhalte, sondern auch mediale Formen wurden somit unter ethisch-politischen Aspekten thematisiert. Einerseits ziehen Künstler aus apokalyptisch übersteigerten Katastrophenszenarien ästhetischen Gewinn; gerade sie erreichen hohe mediale Aufmerksamkeit und erzielen Erfolge – auch an den Kunstmärkten der neuen Superreichen. Andererseits bemühen sich Künstler und Kuratoren, utopische Modelle der dialogischen Begegnung auch mit Menschen zu schaffen, die im öffentlichen Bewusstsein wenig vorkommen. Künstler entwickeln in den verschiedensten Medien neue Formen des Dokumentarischen. Immer wieder neu werfen sie die Frage auf, wie der jeweils Andere überhaupt in der eigenen Vorstellung auftreten und sich präsentieren kann. Insgesamt steht Breitband-Ästhetik mit welthistorischem Pathos vermehrt „Participatory“ oder „Kooperation Art“ gegenüber.
In beiden Formen der neuen Kunst wird Europa systematisch mit den Aufgaben konfrontiert, die ihm aus seiner kolonialen Vergangenheit und seiner industriellen Entwicklung zuwachsen. Die Zielsetzungen global emanzipativer Kunst umfassen dabei keineswegs nur die Akzeptanz von Multikulturalität. Was die Identität angeht, sehen sich gesellschaftliche Formationen ebenso zur Selbstüberschreitung wie zur Selbstvergewisserung aufgefordert – allerdings weniger im Interesse der Bestandssicherung als mit Blick auf neue Aufgaben und die zu ihrer Bewältigung historisch entstandenen Möglichkeiten.
Leitung: Prof. Dr. Michael F. Zimmermann
Mitarbeiterin: Michelle Sturm-Müller, MA